04. Juni 2020
Mehrjährige Pflanzen ziehen aufs Feld
Umdenken im landwirtschaftlichen System
Von Laura von Ketteler
Seit Tausenden von Jahren konzentriert sich die Pflanzenzüchtung auf einjährige Pflanzenkulturen. Zunächst pflanzten die Bauern Gräser an, die ihren wilden Verwandten sehr ähnlich waren. Durch Kreuzung und Selektion konnten die Ernten gesteigert und mehr Menschen ernährt werden. Der Anbau von Mais, Weizen und Reis verbreitete sich über die ganze Welt. Überall entwickelte sich der Rhythmus der Landwirtschaft gleich, die Aussaat beginnt im Frühjahr und die Ernte findet im Herbst statt. Das ist allerdings nicht der Rhythmus, den die Natur vorgibt. Die Mehrheit der Wildpflanzen ist mehrjährig, sie sind für ein funktionierendes Ökosystem verantwortlich und sorgen mit ihrem Wurzelsystem und ihrer Biomasse für Stabilität und Vielfalt in der Natur. Mehrjährige Pflanzen stehen deswegen im Fokus von Wissenschaft und Landwirtschaft.
Einjährige Nutzpflanzen wie Mais, Weizen, Roggen, Reis, Gerste und die meisten Gemüsesorten machen heute rund 70 Prozent der Nahrungsaufnahme der menschlichen Bevölkerung und den größten Teil der Anbauflächen weltweit aus. „Einjährige Pflanzen waren wichtig für die Grüne Revolution und haben dafür gesorgt, dass Nutzpflanzen in großem Umfang angebaut werden können. Heute sind sie jedoch nur deshalb so erfolgreich, weil es einen großen Einsatz von Herbiziden, Düngern und Bewässerung gibt und der Boden stark bearbeitet wird“, sagt Maria von Korff, leitende Wissenschaftlerin des Instituts für Pflanzengenetik an der Heinrich-Heine-Universität.
Um einjährige Kulturen erfolgreich anzubauen, werden Hacke und Pflug vor der Auspflanzung eingesetzt, um Unkräuter zu unterdrücken. Intensive Bodenbearbeitung hat zu Kohlenstoffverlusten, Nährstoffverlusten und Bodenerosion geführt. Die modernen Methoden der Landwirtschaft haben ihren Preis. Jedes Jahr gehen laut FAO Studie weltweit etwa 24 Milliarden Tonnen gesunder Boden verloren. Zusätzlich beeinträchtigen Pestizide und Düngemittel die Grundwasserqualität und eine intensive Bewässerung versalzt den Boden.
An den Wurzeln der Forschung
Forscher auf der ganzen Welt fragen sich, ob es möglich ist, das heutige Agrarsystem zu überdenken und es umweltfreundlich zu gestalten. Ein System, das an die natürlichen Ökosysteme angepasst ist. Der Anbau von mehrjährigen Kulturen ist einer von vielen Ansätzen, der einen Übergang zu einem regenerativen Agrarsystem verspricht. Die Idee: Mehrjährige Pflanzen müssen nicht jedes Jahr neu ausgesät werden, so dass nicht jährlich gepflügt werden muss und der Einsatz von Herbiziden reduziert werden kann.
Im US Bundesstaat Kansas, inmitten riesiger Agrarindustrie, beschäftigt sich das Land Institute, ein gemeinnütziges Forschungsinstitut, mit genau diesen Fragen. Für den Gründer Wes Jackson war schon vor Jahrzehnten eines klar: Die Wildnis muss zum Richtwert werden. Das Land Institut versucht, ein landwirtschaftliches System zu entwickeln, das natürliche Systeme als Maßstab für die Produktivität verwendet.
Heute forschen die Wissenschaftler des Land Institute an mehrjährigen Ölsaaten wie Silphium Integrifolium, die Sonnenblume und Raps ersetzen könnten, und an Hülsenfrüchten wie Lupine und Luzerne. Der größte Erfolg hat das Institut jedoch im Bereich Getreide. Kernza ist ein mehrjähriger Verwandter von Weizen und das erste kommerziell angebaute mehrjährige Getreide. Das Outdoor Unternehmen Patagonia vermarktet Bier aus Kernza, das „Long Root Pale Ale“, und Öko-Bäckereien stellen mittlerweile daraus Brot her.
Das Land Institute verfolgt bei der Entwicklung mehrjähriger Pflanzen zwei Ansätze. Erstens die Domestizierung mehrjähriger Wildpflanzen. Am Institut werden Populationen der Kulturpflanze herausgezüchtet, die besten Individuen werden für die gewünschten Eigenschaften ausgewählt. Die einzelnen Pflanzen werden dann fremdbefruchtet, und die daraus resultierenden Samen zur Erzeugung der nächsten verbesserten Zuchtpopulation gepflanzt. Der zweite Ansatz ist bestehende Nutzpflanzen mehrjährig zu machen. Dabei wird eine bestehende einjährige Getreidepflanze mit einer wilden, mehrjährigen Verwandten gekreuzt.
Forschungsansätze verschiedener Sorten
„Bei der Entwicklung von Kernza haben wir Gene von einjährigem Weizen mit Verwandten des mehrjährigen Wildweizens kombiniert“, sagt der leitende Forscher des Land Institutes, Lee DeHaan. „Aber wir arbeiten noch immer an Verbesserungen, da der Anbau wirtschaftlich für den Landwirt noch nicht wirklich rentabel ist. Letztendlich ist der wichtigste Faktor, dass der Ertrag mit dem der konventionell angebauter Nutzpflanzen mithalten kann“ erklärt er. Kernza überdauert etwa drei bis vier Jahre und kann klassisch mit dem Mähdrescher, der an die geringe Größe und das leichte Gewicht der Körner angepasst ist, geerntet werden. Jedoch produziert herkömmlicher Weizen immer noch viermal mehr Ertrag als Kernza.
Einen weiteren vielversprechenden Ansatz bietet PR23, ein mehrjähriger Reis, der in China in Zusammenarbeit mit dem Land Institut entwickelt wurde. „Der Ertrag ist mit dem des konventionell angebauten Reis vergleichbar und hat mehrere Vorteile. Er erspart viel Handarbeit und kann zweimal im Jahr geerntet werden“, weiß von Korff. In China ist PR23 bereits auf Tausenden von Hektar zu finden.
Auch im Gemüsesektor werden erste Forschungsarbeiten durchgeführt. Hanno Schäfer, TU München, hofft auf die Etablierung von mehrjährigem Gemüse und Obst. Mit seinem Team entdeckte er Verwandte der Honigmelone in Australien und Indien. „Vor allem in trockenen Gebieten wie Nordafrika und Trockengebieten Indiens, wo die Auswirkungen des Klimawandels am stärksten sind, hat mehrjähriges Gemüse großes Potenzial“, sagt er. Mehrjährige Honigmelonen könnten höchstwahrscheinlich fünf bis zehn Jahre überdauern. Schäfer ist der Meinung, dass hier nicht Kreuzen und Selektieren der richtige Weg in der weiterführenden Forschung sind, sondern die CRISPR/Cas Methode.
Vorteile mehrjähriger Pflanzen
Was macht mehrjährige Kulturen so vielversprechend, dass Wissenschaftler die Geduld für eine so langwierige Forschung aufbringen? „Stauden haben mehrere Vorteile und Antworten auf aktuelle Herausforderungen in der Landwirtschaft“, erklärt DeHaan. „Im Laufe der Jahre entwickeln mehrjährige Pflanzen ein sehr tiefes Wurzelsystem, welches besser an tiefliegende Ressourcen gelangt und toleranter gegenüber Dürreperioden ist. Im Allgemeinen zeigen sie nicht annähernd so schnell Folgen von Stress wie einjährige Pflanzen“, fügt er hinzu.
Die interviewten Wissenschaftler sind einer Meinung: Mehrjährige Pflanzen bilden mit großer Wahrscheinlichkeit eine höhere Resistenz gegen Schädlinge. Sie haben Zeit über mehrere Jahre hinweg Resistenzen zu entwickeln. Der Erfolg wird darin bestehen, die besten Aspekte von einjährigen und mehrjährigen Pflanzen zu kombinieren, um die Ertragsstabilität, die Widerstandsfähigkeit gegenüber Schädlingen und die Toleranz gegenüber Dürren zu verbinden. „Auf der anderen Seite werden mehrjährige Kulturen wahrscheinlich auch länger brauchen, um sich zu erholen, wenn sie von Schädlingen oder schweren Wetterextremen betroffen sind“, betont DeHaan.
Sobald der Ertrag mit konventionell angebauten Nutzpflanzen vergleichbar ist, könnten die Landwirte zusätzlich zu den ökologischen Vorteilen Geld einsparen, das sie normalerweise für Arbeiter, Benzin, Saatgut und vor allem für eine Sache ausgeben: Stickstoffdünger.
Zukunftsszenario: Was wird benötigt?
Die Entdeckung neuer Sorten ist die eine Sache, aber eine noch größere Herausforderung könnte die Reform des Agrarsystems sein. Industriezweige entlang der Wertschöpfungskette, wie die Saatgut-, Düngemittel- und Maschinenindustrie, sind auf jährliche Prozesse angewiesen. „Schneller Profit ist mit mehrjährigen Kulturen nicht zu erzielen, und es wird schwierig sein, bestehende Produktionsketten zu durchbrechen“, glaubt von Korff.
DeHaan und von Korff sind sich einig, dass mehrjährige Kulturen das heutige Agrarsystem nicht ersetzen werden, aber sie werden eine gute Alternative in Gegenden bieten, die von Dürren oder Erosion betroffen sind. Um diese langfristige Forschung fortsetzen zu können, sind außerdem weitere Öffentlichkeitsarbeit und vor allem finanzielle Mittel für die Forschung erforderlich.