Farm & Food 4.0
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Photo: Daniela Diaz on Unsplash

28. Oktober 2019

Gibt es einen Putsch gegen das System Nutztierhaltung?

Verschiedenste Institutionen versuchen sich an Zukunftsprognosen für die Land- und Viehwirtschaft

Von Sarah Liebigt

Die Landwirtschaft verändert sich rasant – genauso wie der Blick auf die Nutztierhaltung und alternative Proteine. In welche Richtung? Getrieben von welchen Faktoren? Welcher Weg ist der richtige? Antworten auf solche Fragen versuchen Wissenschaftler und ThinkTanks auf unterschiedliche Art und Weise zu geben. Ein Blick auf drei verschiedene Studien.

Alternative Möglichkeiten, die Welt zu ernähren, sind auf dem Vormarsch. Jeden Tag verbessern wir Technologien und Mittel zur Entwicklung und Produktion von Lebensmitteln. Die Art und Weise, wie wir essen und wie die Bauern unsere Lebensmittel produzieren, muss sich parallel ändern.

Wir gehen heute davon aus, dass viele Verbraucher zu tierfreien Lebensmitteln wechseln werden, wenn diese Produkte ihren tierischen Alternativen in Sachen Kosten, Geschmack, Funktionalität und Gesundheit gleichwertig sind oder sie übertreffen, sagt Rob Leclerc von AgFunder. Wenn wir zusätzlich Verbraucher einkalkulieren, die sich Sorgen um die Auswirkungen der Nutztierhaltung auf Umwelt und Nachhaltigkeit machen, kann dieser Wechsel noch schneller erfolgen. Oder auch: „Die Gefahr für das ‚System Nutztierhaltung‘ ist nicht der Erfolg neuer Alternativen, sondern das System selbst“, konstatiert Fabio Ziemßen, Director of Innovation, NX Food, im Gespräch mit Farm & Food.

Ein wichtiger Faktor ist zudem das Aufkommen neuer Technologien wie Gen-Editing, künstliche Intelligenz sowie große Fortschritte im Bereich Tissue Engineering und DNA-Sequenzierung. Lebensmittelunternehmen können völlig neue Produkte entwickeln.

Nutztierhaltung neu denken

Der Think Tank RethinkX hat kürzlich ein Papier über die Zukunft der Rinderindustrie veröffentlicht. Dessen wichtigste Aussage klingt recht dramatisch: „Bis 2030 wird die Nachfrage nach Kuhprodukten um 70 Prozent gesunken sein. Bevor wir diesen Punkt erreichen, wird die US-Rinderindustrie praktisch bankrott sein. Bis 2035 wird die Nachfrage nach Rindfleisch und Milchprodukten um 80 Prozent bis 90 Prozent zurückgegangen sein.“

Die Autoren sagen weiter: „Es wird zu einer enormen Wertvernichtung für die an der Nutztierhaltung und -verarbeitung Beteiligten und für alle Branchen kommen, die den Sektor unterstützen und beliefern (Düngemittel, Maschinen, Veterinärdienste und mehr). Wir schätzen, dass dies mehr als 100 Milliarden Dollar ausmachen wird. Gleichzeitig ergeben sich große Chancen für die Hersteller moderner Lebensmittel und Materialien.“

 „Die Produktionsmengen der US-amerikanischen Rindfleisch- und Milchindustrie und ihrer Zulieferer werden bis 2030 um mehr als 50 Prozent und bis 2035 um fast 90 Prozent sinken. In unserem zentralen Fall wird der Markt für Hackfleisch bis 2030 mengenmäßig um 70 Prozent, der Steakmarkt um 30 Prozent und der Milchmarkt um fast 90 Prozent geschrumpft sein. Der Volumenmarkt für andere Kuhprodukte wie Leder dürfte um mehr als 90 Prozent zurückgegangen sein. Das Volumen des Ackerbaus für Soja, Mais und Luzerne wird um mehr als 50 Prozent sinken.“

Das Papier verwendet zahlreiche Diagramme und Grafiken, um den bevorstehenden Wandel in der Branche zu veranschaulichen. Die Erklärung, wie genau diese große Veränderung stattfinden wird, bleibt allerdings abstrakt. Einer der wichtigsten Sätze ist in der Zusammenfassung versteckt: „In einigen Märkten muss nur ein kleiner Prozentsatz der Inhaltsstoffe ersetzt werden, damit ein ganzes Produkt zerstört wird.“ Das ist durchaus richtig. Die Aussage passt jedoch nicht zum gesamten tier-basierten Ernährungssystem, wie das Papier behauptet.

RethinkX sagt, weil wir die Proteine herstellen können, die schließlich nur 3,3 Prozent des Inhalts einer Flasche Milch ausmachen, brauchen wir die Kuh nicht mehr. RethinkX sagt nicht, dass wir in Zukunft Milch genauso brauen können, wie wir Bier brauen: Man werfe die Proteine in einen Tank und gebe „87,7 Prozent Wasser, 4,9 Prozent Zucker (hauptsächlich Laktose), 3,4 Prozent Fette und 0,7 Prozent Vitamine und Mineralien“ hinzu. Diesen Schluss müssen die Leser/innen selbst ziehen.

„Wir stehen vor nichts weniger als dem Ende der Fleischproduktion, wie wir sie kennen“, prophezeit ebenfalls Dr. Carsten Gerhardt, Partner und Landwirtschaftsexperte von A.T. Kearney. „Bereits 2040 werden nur 40 Prozent der konsumierten Fleischprodukte von Tieren stammen.“ Dies bedeute auch ein Schrumpfen der Massentierhaltung mit all ihren Problemen.

Gerhardt beruft sich dabei auf eine Studie der internationalen Unternehmensberatung mit dem Titel „How will Cultured Meat and Meat Alternatives disrupt the Agricultural and Food Industry?“, die sich intensiv mit neuen Alternativen zu klassischen Fleischprodukten aus Nutztierhaltung beschäftigt. Zwar gehen die Autoren von einem global insgesamt weiterhin wachsenden Fleischmarkt aus, allerdings verdrängen neue Fleischalternativen und kultiviertes Fleisch zunehmend gewöhnliches Fleisch.

Im Westen nichts Neues

RethinkX bezeichnet die oben erwähnte „bahnbrechende“ Technologie als „Präzisionsfermentation“: Was die Autoren als „die Verwendung eines Mikroorganismus zur Herstellung eines bestimmten gewünschten Moleküls“ definieren, wird bereits seit geraumer Zeit eingesetzt. Die Lebensmittelindustrie stellt mithilfe dieses Prozesses u.a. Vitamine, Proteine oder Lipide wie aus Algen gewonnene Omega-3-Fettsäuren in Nahrungsergänzungsmitteln her. Neu ist hingegen, wie diese Technologie heutzutage eingesetzt wird.

Der Bericht scheint auch den Verbraucher selbst nicht zu berücksichtigen. Ein Faktor, von dem Experten behaupten, dass er die Entwicklung, die Preise und schließlich die Umstellung von Kuh auf Mais erheblich beeinflusst: „Der Konsum gesunder und nachhaltiger Lebensmittel bietet große Chancen, die Treibhausgasemissionen aus Nahrungssystemen zu reduzieren und die Gesundheitsergebnisse zu verbessern“, sagt der IPCC. Das Wachstum des Marktes für alternative Proteine sowie die „Realisierung dieses Potenzials (Reduzierung der Treibhausgasemissionen, etc.)“ auf breiter Ebene hängen von den Entscheidungen und Ernährungspräferenzen der Verbraucher ab, die sich „an sozialen, kulturellen, ökologischen und traditionellen Faktoren sowie am Einkommenswachstum orientieren. *(IPCC, Kapitel 5: Ernährungssicherheit, S. 55)

„Wenn das Produkt schmeckt, sind die Kunden durchaus bereit, immer mal wieder einen Tag auf Fleisch zu verzichten“, sagt Wiesenhof-Vorstand Marcus Keitzer. „Die neuen Produkte zielen primär nicht mehr auf die Zielgruppe der Veganer ab. Die neuen Unternehmen, mit denen wir Partnerschaften geschlossen haben, schaffen ein Geschmackserlebnis, das sehr nah an das Original herankommt. Aussehen, Struktur, das Beiß- und Zubereitungsverhalten sind nahezu identisch. Das macht die Produkte für Flexitarier interessant, die sie als Alternative zum Fleisch sehen und damit ergibt sich ein durchaus großes Markpotenzial.“

Berichte wie RethinkX‘ verursachen dennoch einige Unruhe unter den traditionellen Bauern in den USA. Landwirte sorgen sich um ihre Zukunft, sollte sich der Wandel zu plötzlich vollziehen.

Ein Putsch gegen das „System Nutztierhaltung“ wird nicht stattfinden

Bei einem Treffen auf der World Dairy Expo in Madison WI wurde US-Landwirtschaftsminister Dr. Sonny Perdue von Mitgliedern der Branche mit entsprechender Kritik konfrontiert. In seiner Antwort auf Fragen zu zellkultivierten Proteinen verteidigte Dr. Sonny Perdue die USDA-Politik zur Innovation. Auf die Frage, was seine Abteilung tun würde, um die konventionelle Nutztierhaltung zu schützen, antwortet er: „Es geht darum, ein ausgeglichenes Spielfeld zu haben. Wenn Sie denken, dass die USDA sich neuer Technologie verweigern sollte, um den traditionellen Proteinmarkt zu schützen, würde ich respektvoll widersprechen.“

In Deutschland wäre beispielsweise BALpro, die Vereinigung für alternative Proteine, eine Anlaufstelle für die Frage nach der Wahrscheinlichkeit von Prognosen wie der von RethinkX oder Kearnel. BALPro ist die Austauschplattform für führende Technologen, Wissenschaftler, Innovationstreiber, VCs und Unternehmen im Bereich alternativer Proteinquellen. „In unserem Netzwerk entstehen Innovationen aus Zusammenarbeit“, erläutert Fabio Ziemßen, stellvertretender Vorsitzender von BALPro und Director of Innovation at NX Food. „Politische Entscheider beraten wir in Bereichen wie der Eiweißpflanzenstrategie zur Entwicklung und Etablierung regionaler, sauberer und (international) wettbewerbsfähiger Wertschöpfungsketten.“

Wie also bewertet die BALpro Entwicklungen und deren Tempo im Sektor Alt. Proteine?
„Dass wir heute von einem ‚Sektor‘ sprechen, hätte vor einigen Jahren noch niemand für möglich gehalten“, so Ziemßen. Die Qualität und die Markttauglichkeit vieler pflanzenbasierter Produkte seien wesentlich unterschätzt worden. „Auch Innovationen im ‚Cultivated Meat‘ Bereich machen heute Fortschritte in ungekannter Geschwindigkeit. Durch die Bereitschaft vieler Hersteller zur Transformation des eigenen Produktportfolios sowie das steigende Interesse von Investoren – auch außerhalb der Hotspots in den USA und Tel Aviv – lässt sich das wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Potenzial nur erahnen.“

Sicher ist sich Ziemßen, dass alle Akteure der Lebensmittelwirtschaft sich die Frage stellen müssen, wie sie sich für die Zukunft aufstellen und welche Rolle sie in einem sich verändernden Wirtschafts-, Öko- und Gesellschaftssystem spielen werden. „Ob etablierter Anbieter oder Start-Up: wer heute auf die Veränderungen von morgen reagiert, Synergien mit anderen Anbietern bildet und Innovationen vorantreibt, ist gut beraten. Ein Putsch gegen das ‚System Nutztierhaltung‘ wird nicht stattfinden und ist auch nicht unser Ziel.“

Wachstum durch Vielfalt

Was sagt die Industrie selbst zu den rasanten Entwicklungen im Bereich der alternativen Proteine? Wird sich die Branche so schnell verändern, wie es RethinkX beschreibt?

Das Unternehmen Wiesenhof ist sich sicher, dass sich der Fleischkonsum in den kommenden Jahren ändern wird und dass pflanzliche Alternativen in Zukunft eine feste Komponente im Markt haben werden. „Wie bei anderen Angebotsformen auch, wird es hier sicherlich zu einem Nebeneinander der Produkte kommen und der Kunde wird dann entscheiden, zu welchem Produkt er greifen möchte.“

Geschäftsführer Marcus Keitzer fährt fort: „Wir verfolgen einen differenzierten Ansatz und glauben nicht an Schwarz-Weiß-Szenarien. Unsere Aufgabe als Lebensmittelhersteller ist es, für den Verbraucher möglichst viele verschiedene und überzeugende Angebote zu schaffen.“

„So sind wir z.B. eine strategische Partnerschaft mit dem israelischen Unternehmen SuperMeat eingegangen, das Fleisch aus Zellkulturen entwickelt. Künftig könnte unsere Produktpalette durch ein ‚cultured‘ Fleischangebot ergänzt werden. Unsere Strategie heißt ‚Wachstum durch Vielfalt‘ und wird neben SuperMeat beispielsweise auch durch unsere Investition in Good Catch Foods und unsere Vertriebspartnerschaft mit Beyond Meat und JUST ergänzt. Unternehmen wie Beyond Meat, Good Catch Foods und JUST stehen für die nächste Generation von hervorragenden pflanzlichen Protein-Produkten.“

Wie reagiert die traditionelle Landwirtschaft auf die Entwicklungen im AltPro-Sektor? Solange sie die Landwirte in ihre Geschäftsentwicklung einbeziehen, können sie ihnen eine Möglichkeit bieten, mitzuhalten, sagt Keitzer: „Die meisten unserer Vertragslandwirte verstehen es, wenn wir erklären, dass es das Unternehmen stabilisiert und damit auch den Landwirten hilft. Wir nutzen unser Know-how in anderen Bereichen, ohne unser Kerngeschäft zu vernachlässigen. Wir beraten unsere Mäster und informieren sie über den Markt. Das ist zeitintensiv, aber wichtig, damit die Landwirte verstehen, was wir tun.“

Fazit

In Zeiten von Klimawandel und schnelllebigen Trends in der Landwirtschaft wächst der Druck auf Landwirte und Landwirtinnen, nicht mehr nur kostengünstig, sondern auch fair, nachhaltig und gesund zu produzieren. Dazu drängen Unternehmen auf den Markt, die nicht aus der traditionellen Landwirtschaft kommen, sondern ihren Ursprung in der Lebensmittelforschung haben. Und die Investoren „weglocken“: Landwirtschaftsexperte Gerhardt sieht große wirtschaftliche Chancen und eine radikale Veränderung der Ernährungsindustrie auch angesichts völlig neuer Geschäftsmodelle und Lieferketten. Seiner Meinung nach ist der aktuelle Markteintritt von „Beyond Meat“ und der damit verbundene mediale Hype nur der Anfang. Der globale Fleischmarkt von jährlich rund 1.000 Milliarden US Dollar wird bis 2040 auf rund 1.800 Milliarden anwachsen. Da die Karten jedoch zudem völlig neu gemischt werden, verwundert es nicht, dass viele Investoren massiv in neue Ansätze investieren. Allein bis 2018 flossen rund 950 Millionen US Dollar in Start-Ups. Davon allein 50 Millionen US Dollar in die noch vergleichsweise junge Idee, Fleisch durch Zellvermehrung und -strukturierung herzustellen, ohne ein Tier zu töten.

Unternehmen wie Rügenwalder Mühle, Wiesenhof sowie Discountermärkte sind auf den Zug aufgesprungen und haben ihr Portfolio um pflanzliche Produkte erweitert. Diese Produkte tragen die bekannten Marken und werden in den meisten Geschäften direkt neben den traditionellen Fleischprodukten in die Regale gestellt. Ersatzprodukte wie JustEgg oder Knäckebrot aus Insektenmehl, nehmen immer mehr Platz ein: Sowohl auf Tellern als auch in Marketingkampagnen. Wir sind auf dem richtigen Weg. 

Die Branche verändert sich. Und zwar schnell. Die Landwirtschaft stand schon immer unter Druck, und der Verbraucher, einer der treibenden Faktoren für diesen Wandel, sieht in der Regel selten den Fortschritt, den Einsatz neuer Technologien oder gar die Risiken, die jeder Landwirt trägt. Keitzer hat recht, wenn er sagt, dass es auf die aktuellen Fragen keine einfache schwarz-weiß Antwort gibt.

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